Chemotherapie

«Die Wahrscheinlichkeit, dass der Krebs zurück kommt, liegt bei 30%. Durch eine einmalige 3-wöchige Chemotherapie können wir diese Wahrscheinlichkeit auf unter 1% senken.» Ein Richtig oder Falsch gab es nicht, eine Empfehlung auch nicht. Die Entscheidung lag ganz in meiner Hand.

Auch mit dem Gedanken, dass mir eine harte Zeit bevorstand, entschloss ich mich, das ganze durchzuziehen, um danach damit abschliessen zu können. Die Ungewissheit (bei 30%) wäre für mich nicht in Frage gekommen. Ich wollte mich nicht den Rest meines Lebens darüber Gedanken machen und besorgt sein. Würde der Krebs wieder kommen, wäre die Chemotherapie 3 Mal so lange (9 statt 3 Wochen). Der Gedanken war noch schrecklicher. Es war Ende November. Die Weihnachtszeit stand vor der Tür: Apéros, Weihnachtsfeier und andere Events oder auch Silvester in Belgien war geplant. Die Chemotherapie im neuen Jahr zu starten, wäre für mich wünschenswert gewesen. Doch die Ärzte waren anderer Meinung: «Wir starten nächste Woche.» Der Chefarzt informierte mich ausführlich und zeigte mir den Ablauf bis ins Detail auf, so dass am Schluss keine Fragen mehr offen standen. Ich war bereit.

So besuchte ich die erste Woche 5 Tage hintereinander die Tagesklinik für jeweils 3 Stunden. Während dieser Zeit lag ich im Bett oder sass auf einem Stuhl, konnte lesen oder bereits die neuen Choreografien vom Groupfitness lernen, was zu diesem Zeitpunkt ganz bizarr erschien. Nach jeder Behandlung fuhr ich mit dem Tram nach Hause, legte aber oft einen Zwischenstopp beim Hamburger-Restaurant ein. Ich musste meine Heisshungerattacken stillen, die durch die Medikamente ausgelöst wurden. Und das war auch schon mein Tagesprogramm. Die ersten 2 Tage ging es mir erstaunlich gut. Doch bereits nach dem 3. Behandlungstag, an dem mir wieder 3 Medikamente intravenös verabreicht wurden, fühlte ich mich ausgelaugt, übersäuert, wie verkatert, einen säuerlichen Geschmack im Gaumen, als ob ich zu viel Alkohol getrunken hätte. Zu Hause lag ich ich nur noch rum, wurde träge und müde. Kleinste Arbeiten wie Waschmaschine laufen lassen oder Geschirrspüler ausräumen, wurden anstregend. Auch die Fahrt im Tram in die Tagesklinik wurde zur Herausforderung. Nur schon das Geschwätz von Schülern im Tram war mir plötzlich zu laut und unerträglich für meine Ohren. Ich glaubte, mich wie ein 80-jähriger zu fühlen: schwach und empfindlich, dass ich laut rausbrüllen hätte können: «Seid endlich mal still!». Ende Woche kämpfte ich mich richtig in die Tagesklinik. Als meine Pflegerin und Betreuerin mich empfang, konnte sie es meinem Gesichtsausdruck ablesen, dass es mir nicht gut ging. Ich hätte in Tränen ausbrechen können. Dank Infusion ging es mir dann wieder besser. Ich hatte durch das Sättigungsgefühl der Medikamente einfach zu wenig getrunken. Woche 2 und 3 sollten weniger intensiv werden, da jeweils nur 1 Behandlungstag bevorstand.

Eines Morgens lag ich um 5 Uhr in der Notfallaufnahme. Ich hatte so extreme Bauchschmerzen, dass kein Medikament mehr half. Fazit: Mein Immunsystem war derart geschwächt, dass ich mir einen Magendarminfekt geholt hatte. Und das war noch nicht alles: Halsweh und Schnupfen plagten mich auch noch während dieser Zeit. Ich hatte das Gefühl, gleich die gesamte Palette der saisonalen Grippen eingefangen zu haben. Ich hielt Abstand zu allen Personen und blieb das erste Mal in meinem Leben an Weihnachten von meiner Familie fern, weil dort alle schon verschnupft waren.

Nach Weihnachten, am 27. Dezember 2018, war meine allerletzte Behandlung. Ich fühlte mich zu diesem Zeitpunkt schon besser. In der Tagesklinik erzählte mir ein 70- bis 80-jähriger Herr, dass er schon 7 Jahre hier her kommen würde. Er hätte ein schönes Leben gehabt und würde nun einfach das Beste aus der Situation machen. Der Gedanke für mich war schockierend. Mir hatten schon 3 Wochen gereicht. Wie grauenhaft, wenn ich mir vorstellte, die ganze Prozedur noch 2 Mal zu wiederholen (wie anfangs erwähnt) oder gar 7 Jahre wie bei diesem Mann. Ich war froh, als ich mich bei meiner Pflegerin verabschieden konnte und sie mir im guten Sinne wünschte, dass wir uns hier nicht mehr begegnen würden.

Am gleichen Abend flogen wir (nach Zusage meines Arztes) nach Brüssel. Es wurden entspannte Tage. Ich konnte nach Wochen aus meinen eigenen 4 Wänden und alles hinter mir lassen. Silvester feierten wir gemütlich und ruhig mit Freunden. Bereits anfang Januar besuchte ich wieder das Fitnessstudio, um langsam mit dem Training anzufangen. Innert 2 Wochen fühlte ich mich soweit fit, um wieder BodyPump-Stunden zu unterrichten (wenn auch anfangs mit leichten Gewichten). Das einzige, was mich noch 3 Monate an die Chemotherapie erinnerte, war der Haarausfall, der noch im alten Jahr einsetzte. Erschreckend, weil ich plötzlich die Haare büschelweise rausziehen konnte. Die Haare wuchsen erst 3 Monate später wieder gleichmässig...

Ob ich jetzt – ein halbes Jahr später – das eine oder andere Wehwehchen als Spätfolge zu betrachten habe, sei dahingestellt. Im Grossen und Ganzen fühle ich mich gesund wie eh und je. An die Krankheit erinnert mich nur der fehlende Hoden und die regelmässigen Kontrollen, die für mich nur noch Routine sind. Im Nachhinein bin ich froh, dass alles so schnell und gut verlaufen ist und ich "Glück im Unglück" hatte. Ein zweites Mal möchte ich jedoch das ganze nicht mehr durchmachen müssen. Das Leben schätze ich wieder mehr. Ich hab grossen Respekt zu anderen krebskranken Menschen, denen es viel schlechter geht als mir.